Gefühlte Zeit, montierte Zeit

Praxispanel I

Wie sehr erlebte Zeit und tatsächlich vergehende Minuten sich unterscheiden können, davon zeugt eine Fülle deutscher Sprichworte. In der Filmwirkung ist es zentral die Montage, die die Emotionen der Zuschauer lenkt und so die Tonalität des Zeitempfindens setzt zwischen ins Unerträgliche gedehnter »bleierner Zeit« und vergnügt »wie im Fluge vergehender Zeit«. Dabei wird der »Schnitt in Zeit und Herz« zum zentralen Bestandteil eines wirkästhetischen Gesamtkonzepts.

Etwa bei den Filmen Michael Hanekes, der an den produktiven Schmerz glaubt und auch mittels Montage die Zuschauer »zur Selbständigkeit vergewaltigt« sehen will: »Wie erreiche ich den Moment, an dem es weh zu tun beginnt? Durch Steigerung dessen, was ich kenne? Das wäre die übliche Methode. Die Antwort ist: durch die Dauer. Es wird zuerst fad, und dann tut’s weh.« Im Dienste einer gezielten emotionalen Verstörung der Zuschauer vereitelt eine dissonante Montage harmonische Dreiklänge und dehnt Augenblicke ungeschnitten bis über die Grenzen des Erträglichen – das Spiel mit den Zuschaueremotionen wird so zum Kommentar konsumorientierter Sehgewohnheiten.

Die direkte Nähe zu Lebensgefühl und Wahrnehmungswelt der Protagonisten wählt die Montage von Lollipop Monster. Die experimentierfreudige »Teenage-Angst-Rebellion«-Bilderorgie setzt auf sinnhaft einmontierte Musikvideo-Fragmente, kurze Animationsschnipsel direkt aus dem Angstzentrum und sparsam platzierte Vampirfilm-Visual Effects, die im Zusammenspiel mit gezielten Wechseln von klassischen Studiodrehs und »Hipstamatic«-Super-8-Handkamera eine filmsprachliche Analogie zur pubertär-bipolaren Emotionswelt ihrer Heldinnen schaffen. Praktische Einblicke in diese unterschiedlichen »Spielarten« im Spannungsfeld montierten Zeit-Gefühls gewähren Monika Willi und Dirk Grau mit Ausschnitten aus Die Klavierspielerin und Lollipop Monster.

Monika Willi

1968 in Innsbruck geboren, lebt Monika Willi seit 1987 in Wien, wo sie zuerst als Assistentin für Kamera, Schnitt und Produktion arbeitete. Seit 1996 zeichnet sie als Editorin verantwortlich für viele Dokumentar- und Spielfilme der bekanntesten österreichischen Regisseure. Sowohl mit Michael Glawogger als auch mit Michael Haneke verbindet sie eine über zehnjährige Zusammenarbeit. Für die Montage an Das weiße Band war sie 2010 für den Deutschen Filmpreis nominiert und wurde im gleichen Jahr mit dem Filmstiftung NRW Schnitt Preis Spielfilm bei Filmplus ausgezeichnet.

Dirk Grau

Dirk Grau machte sich durch die Montage von Independent-Kinoproduktionen wie Eoin Moores plus-minus null oder Sexy Sadie von Matthias Glasner einen Namen. 1999 gründete er mit Carmen Baudi die Produktionsfirma Seaside Pictures und arbeitet seitdem auch als Autor und Regisseur. 2005 und 2006 wurde Dirk Grau für Rhythm Is It! und Knallhart mit dem Deutschen Filmpreis in der Kategorie Schnitt ausgezeichnet.

Gefühlte Zeit, montierte Zeit
Wie Schnitttechniken das emotionale Erleben der Zuschauer prägen
Samstag, 26. 11.2011, 19:00 Uhr
im Filmforum im Museum Ludwig

In Kooperation mit dem Österreichischen Verband Film- und VideoSchnitt / austrian editors association (aea).