„Mich können sie nur für Schnulzenfilme nehmen“

Ein Interview mit Gisela Haller

Von Oliver Baumgarten.

Wie kam es, dass Sie Schnittmeisterin wurden?

Ich bin als klassisches Kriegskind praktisch ohne Schule in Berlin aufgewachsen. Erst nach dem Krieg habe ich im Pestalozzi-Fröbel-Haus meinen Abschluss nachholen können und wollte dann unbedingt Stewardess werden. Für meinen Vater kam das aber überhaupt nicht in Frage. „Du bedienst nicht andere Leute“, hat er gesagt. Aus Ärger erwiderte ich ihm eines Tages, dass ich dann eben zum Film gehen würde. „Das schaffst Du sowieso nicht“, antwortete er und hatte nun erst recht meinen Ehrgeiz geweckt. Film hatte mich immer schon interessiert, ich war sehr viel im Kino als Kind. Ist ja klar, dort war die schöne, heile Welt: Willy Birgel in „…reitet für Deutschland“, der noch mit Handicap alles gewinnt, während der Krieg draußen langsam verloren ging. Stundenlang hatte man damals für Karten angestanden, es war eigentlich immer ausverkauft das Kino...

Es gab noch kein Fernsehen!

Stimmt, aber man war damals auch gerne und viel mehr unter Menschen. All unsere heutigen Medien machen einsam: Internet, Fernsehen, Computerspiele.

Und so hat Sie der Film damals gereizt…

Genau, und im Tennisclub meiner Eltern war Horst Buchholz Mitglied, und irgendwie ist es mir gelungen, dass der mir Verbindungen zur Mosaik-Film in Berlin machte, dem damals größten deutschen Kopierwerk. Dort konnte ich als Praktikantin anfangen – und zwar wirklich ganz unten. Danach wusste ich vom Positiv-/Negativ-Film bis zur Perforation über das Grundlegendste Bescheid. Anschließend ging ich zu Wenzel Lüdeckes Berliner Synchron, 1957 war das, und habe Synchronisation gelernt. Das war eine ganz wichtige Geschichte, denn mir konnte später niemand mehr etwas vormachen bei der Fertigstellung. Im Gegensatz zu heute, da Sprache, Geräusche und Musik von unterschiedlichen Spezialisten angelegt werden, haben wir das damals ja alles alleine gemacht. Die Synchronerfahrung hat mir unheimlich geholfen.

Wie lange waren Sie dort?

Zwei Jahre etwa war ich bei der Berliner Synchron, bis ich ausgeliehen wurde zur Kurt Ulrich Filmproduktion, die gerade „Peter Voss – der Held des Tages“ drehte – ein großer Renner seinerzeit. Das muss man sich mal vorstellen: Diesen Film haben wir in zwei Wochen fertiggestellt. Anfang Dezember 1959 bekamen wir das ganze Material, das rund um die Welt gedreht wurde, auf den Tisch. Schlaflos haben wir Tag und Nacht gearbeitet, der Film sollte ja am 22. Dezember in den Kinos starten! Sie machen sich keine Vorstellung: Damals begann ich als zweite Assistentin, die erste stieg dann aus, und so musste ich ran. Das war auch der Film, bei dem ich meinen Mann kennen gelernt habe. Er war der Schnittmeister des Films.

Ihr Mann, Hermann Haller, war einer der großen, gestandenen Schnittmeister, hat mit G.W. Pabst, Arnold Fanck, Luis Trenker und Fred Zinnemann gearbeitet…

Ja, einer der ganz großen! Er hatte nach dem „Peter Voss“ ein Angebot von der Bendestorfer Studio Film GmbH für „Ich zähle täglich meine Sorgen“ mit Peter Alexander. Ich bin als Assistentin mitgegangen, und so kamen wir schließlich zusammen…

Wie genau muss man sich zu jener Zeit die Arbeit des ersten Assistenten vorstellen?

Es mussten zunächst die Klappen im Bild eingezeichnet und der Ton abgehört werden. So wurden Bild und Ton am Umrolltisch zusammengelegt und per Hand nummeriert - alle zwanzig Bilder mit weißer Tusche und zwar so, dass man es lesen konnte. Da hatte man durchaus Respekt vor, denn wehe man hatte sich vertan, dann musste alles wieder ausgewischt werden, und die Tusche war wasserdicht! Viel später erst kamen die Nummeriermaschinen. Nach dem Nummerieren habe ich die Rollen chronologisch gesetzt und meinem Chef hingelegt. Der hat sie geschnitten und in den Film eingefügt. Normalerweise haben wir zu jener Zeit an einem Spielfilm zweieinhalb Monate gearbeitet – also inklusive Drehen. Vier Wochen hatten wir maximal für die Fertigstellung, von denen die Komponisten oft am meisten Zeit benötigten. Da wurden wir aber oft schon freigestellt und nur zum Anlegen und Mischen der Musik wiedergeholt.

Haben Sie denn in den sechs Jahren Ihrer Assistenzzeit bei diesen knappen Produktionsspannen überhaupt Gelegenheiten gehabt, ihrem Mann beim eigentlichen Schnitt über die Schulter zu schauen?

Komisch, das habe ich mich neulich auch mal gefragt. Gelegentlich über die Schulter geschaut, ja. Aber dass er mir mal was gegeben hätte zum Probieren – nein, da waren die Schnittmeister immer sehr eigen. Mein erster eigener Film war dann mit Kurt Hoffmann – 400 Mark die Woche und Tag und Nacht gearbeitet.

Wie kam es dazu, Sie kannten ihn aus der Assistenzzeit, nicht wahr?

Ja, er hatte mich bereits als Assistentin meines Mannes kennen gelernt. Kurt Hoffmann hat gerne mit Anfängern im Schnitt gearbeitet – weil er die dann so ein bisschen in seinem Sinne formen konnte. Hoffmann hat immer bis sieben abends gedreht, dann schaute man sich anschließend Muster an, und er hat ein paar Worte dazu gesagt, wie er sich das so vorstellt. Das Ganze dauerte nicht länger als eine halbe Stunde, dann fuhr er nach Hause, und ich legte los.

Der erste Rohschnitt war dann vermutlich sehr schnell nach Drehende fertig?

Drei Tage danach. Aber ich habe da immer recht viel drin gelassen zunächst, obwohl ich wusste, es würde rausfliegen. Man hat ja damals mit Tesafilm geklebt, und jeder Schnitt machte immer „klick“, wenn der Film über den Tisch lief. Es war einem dann also furchtbar peinlich, wenn es laut und deutlich „klick, klick, klick“ machte, weil man für einen Bewegungsschnitt etwa drei Mal ansetzen musste, bis es stimmte. Das Problem hat man heute freilich nicht mehr.

Aber noch mal zurück zu der Zeit, als Sie mit Ihrem Mann als Team in sechs Jahren mehr als zwanzig aufwändige Filme fertig gestellt haben, Karl-May-Filme zum Beispiel. Wie war da Ihre Arbeitsteilung?

Hermann hat den Bildschnitt gemacht und ich hinterher die Fertigstellung, das heißt die Geräusche, Musiken angelegt und so weiter. Er kam dann nur noch zur Mischung dazu, weil er schon mit dem nächsten Film beschäftigt war. So ging das Schlag auf Schlag. Man muss sich das so vorstellen: Wir hatten die Bilder, und wir hatten ein Dialogband. Erst wurde der Bildschnitt fertig gestellt, dann über die Musik gesprochen, für die ein Komponist wie Martin Böttcher so ungefähr vier Wochen brauchte. In der Zwischenzeit habe ich die Geräusche gemacht und die Synchronisation, und wenn die fertige Musik kam, war sie auf den Punkt bildgenau komponiert. Und synchronisiert wurde damals grundsätzlich alles bei diesen Filmen – und das nicht nur wegen der vielen Außendrehs, sondern auch wegen der internationalen Darsteller.

Das bedeutet: Sie haben auch sämtliche Geräusche synchronisiert…

Außer einigen Atmos gab es bei den Karl-May-Filmen keinerlei O-Töne. Wir haben mit dem Geräuschemacher Hans Kramski gearbeitet, der wunderbar war. Er hat sich vorher den Film angeschaut, um alles, was er brauchte, zusammen zu haben. Dann haben wir in fünf Tagen komplett alle Geräusche aufgenommen. Von den Pferdehufen bis zu Schüssen und Hühnergackern: Sieben bis acht Bänder haben wir gemacht – und das damals bei den Mischungen! Das war sehr anstrengend, aber auch wahnsinnig kreativ, präzise Geräusche zu finden, die auch etwas erzählen. Heute hat man natürlich die viel bessere Tonbearbeitung – aber auch nur, weil die Technik besser geworden ist. Aber ob nun Mono oder Stereo, das sagt noch nichts über die Qualität und Kreativität der Tonbearbeitung aus. Die Geräusche habe ich nie weggegeben, das habe ich immer selber gemacht.

Auf jeden Fall ein ganz schönes Produktionstempo für Filme, die ja alles andere als B-Produktionen waren…

Gerade die Karl-May-Filme waren gewaltig, sehr aufwändig gemacht und echte Straßenfeger. Beim ersten Film, also „Der Schatz im Silbersee“, hatte sich Horst Wendlandt die Muster von einer Schießerei einmal mit einem anderen Schnittmeister angesehen, mit Walter Wischniewsky von der CCC Filmkunst, neben Alfred Srp vielleicht der größte Konkurrent meines Mannes. Und der sagte: „Was soll das denn, die Pferde stehen ja immer wieder auf!“ Plötzlich gab es ein riesen Geschrei bei der Vorführung, und Wendlandt hat den Harald Reinl runtergeputzt, dass die Pferde da ständig aufstehen. Darauf Reinl: „Hör mal, Horst, wir schneiden natürlich, wenn das Pferd unten liegt, ist doch klar!“ Nach Hermanns Montage war das ja auch alles top in Ordnung, aber die Nerven lagen absolut blank beim ersten Karl-May-Film. Der Erfolgsdruck war riesig. Harald Reinl war damals bei der Constantin fest angestellt, Horst Wendlandt hatte ihn also nehmen müssen – und tat ja auch gut daran, denn Reinl war perfekt dafür. Er war halt auch für menschliche Momente zu haben, so wie ich…

Wie meinen Sie das?

Na ja, ich habe immer gesagt: Mich können sie nur für Schnulzenfilme nehmen. Denn das ist es, wie ich meine Arbeit begriffen habe. In „Manta, Manta“ zum Beispiel gibt es diesen Moment, nachdem der Manta ins Wasser fiel und nun wieder getrocknet wird, in dem der Typ den Fuchsschwanz vom Manta föhnt. Ich habe gekämpft wie eine Löwin für dieses Bild. Ich fand das so liebenswert, ich hätte meinen Namen zurückgezogen, wenn das rausgeflogen wäre. „Hören Sie“, habe ich bei der Abnahme gesagt, „das sind 10 Sekunden – gönnen Sie die mir“. Oder bei „Martha und ich“, Marianne Sägebrechts Blick, wenn am Beginn der Vogel erschossen wird: Solche emotionalen Augenblicke würde ich niemals rausschneiden.

Schaut man auf Ihre Filmografie, fällt auf, dass Sie mit wirklich allen publikumsstarken Regisseuren des deutschen Nachkriegsunterhaltungsfilms gearbeitet haben – liegt das an diesem Gespür für diese emotionalen Momente?

Na ja, Gespür… Ich bin eben so. Ich finde, da fängt ein Film an kalt zu werden, wenn man solche Momente rausschneidet, Emotionen, die die Figuren zeigen. Wenn die nicht zu sehen, nicht zu spüren sind, dann kann mich das alles auch nicht miterleben. Es gibt Regisseure, die schaffen es so gut wie nie, Emotionen zu erzeugen. Da werden Texte runtergeplappert, und das war’s.

Aber wenn Filme wie in jener Zeit geradezu industriell gefertigt wurden, kann die Routine schnell dazu führen, oder?

Klar, so etwas wie die Paukerfilmreihe, das war Konfektionsware. Doch obwohl ein Regisseur wie Harald Reinl unglaublich routiniert war, blieb er ein hervorragender Handwerker, der genau wusste, was er wollte. Er hatte in seine Drehbücher alles exakt eingezeichnet, hat am Drehort präzise Anweisungen gegeben und zack, war alles erledigt. Auch ich habe natürlich eine Routine entwickelt und mit zunehmender Erfahrung den Mustern sofort angesehen, in welche Richtung das gehen soll. Im ersten Rohschnitt habe ich dann alles ein bisschen länger gelassen, damit wir auch schön Luft hatten zu schneiden.

Um es straffen zu können oder dem Regisseur Gelegenheiten zu Korrekturen zu geben?

Beides…

Mit anderen Worten: Sie haben sich am Ende des Tages durchgesetzt?

Naja... Ich habe nie insistiert, war nie penetrant. Ich habe immer versucht, das, was im Buch beabsichtigt war oder was ich als Absicht empfunden habe, zu erarbeiten. Und dabei bin ich aber auch auf den Wunsch nach Alternativen eingegangen, wir haben dann eben noch etwas probiert und noch etwas – vielleicht habe ich mich ja auch geirrt? Es war immer ein Geben und Nehmen.

Inwiefern gab es zu jener Zeit auch Konflikte mit den einflussreichen Produzenten wie Artur Brauner etwa?

Oh ja, Brauner kenne ich noch sehr genau, wahnsinnig geizig. Der hat damals Toilettenpapier bedrucken lassen mit „Gestohlen bei CCC“. Er hat sich gelegentlich Muster angeschaut, war ansonsten aber beim Schnitt nicht dabei. Erst bei der Rohschnittabnahme ging es dann zur Sache. Aber vielleicht hatten es die Produzenten wie ein Artur Brauner damals schwerer...

Auffallend an Ihrer Filmografie ist auch, dass Sie sehr viele Operetten und Konzertfilme, also musikalische Filme geschnitten haben…

Eines der größten Erlebnisse für mich war die Arbeit mit Herbert von Karajan: eine Aufnahme von Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 fürs ZDF, mit Alexis Weissenberg am Klavier. Das war damals wahnsinnig aufwändig. Man hat das Konzert von zwei Seiten mit je vier Kameras durchgedreht – mit Ton für jede Kamera. Und das alles auf 35mm, was man ja immer nur bildweise schneiden kann, also alle vier Löcher. Das bedeutet, dass ich immer schummeln musste. Wenn meinetwegen der Paukenschlag bei der einen Kamera eine sechzehntel Sekunde früher war, musste ich das Bild von der anderen nehmen, ich konnte ja nicht mitten in die Pauke schneiden, obwohl mir das eigentlich viel lieber war. Das Konzert wurde Silvester in der Philharmonie Berlin aufgenommen. Gegen zehn war es zu Ende, und ich wurde direkt im Anschluss Herrn Karajan vorgestellt, ob ich ihm denn auch genehm sei. Und während des Schnitts ist er regelmäßig gekommen, hat sich die Arbeit angeschaut und Anmerkungen gemacht. Ich war am Ende ganz stolz, weil mir nur drei kleine musikalische Schnittfehler unterlaufen sind. Ich hatte ja mal Klavier gespielt, konnte mich also in der Partitur ganz gut orientieren, die ich beim Schneiden natürlich dringend brauchte.

Was ist für Sie immer der Kern Ihres Berufes gewesen?

Im Grunde habe ich nur ein Prinzip: Ich will die Geschichte verstehen. Wenn das nicht passiert, dann interessiert mich der Film auch nicht. Gerade heute werden teilweise so harte Schnitte gemacht, dass man – schon nach einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit – nicht mehr folgen kann. Für mich ist das nichts, ich will immer, dass Geschichten sauber erzählt werden. Für die Geschichte gehen die Leute ins Kino. Hast du die sauber erzählt, ist das die halbe Miete. Das habe ich von Harald Reinl. Heute würde man vielleicht auch seine Filme schneller schneiden, aber sauber erzählt bleiben sie allemal.

Was macht denn für Sie eine Geschichte verständlich?

Das muss im Buch natürlich anfangen, dort muss die Geschichte schon mal stimmen. Außerdem müssen die Personen authentisch sein. Insgesamt braucht es eine klare Linie, die nachvollziehbar ist. Außerdem braucht es auch mal Pausen zwischendurch, bevor man das Tempo ja wieder anziehen kann. Der Rhythmus muss also stimmen und das Timing.  Zum Beispiel: Eine Bewegung im Off muss im richtigen Moment ins Bild kommen – für mich ist dies das wichtigste am Beruf: Timing und Rhythmus.

Haben Sie Ihren Beruf immer freischaffend ausgeübt?

Ich war immer selbständig und musste schauen, dass es irgendwie weiter ging. Seit den 80er Jahren war ich aus privaten Gründen angestellt und habe anfangs die Synchronisationsabteilung der Kirch-Gruppe geleitet. Klingt aber besser als es war. Ich saß dort als Chefin und musste die Arbeit verteilen, bis man dahinter kam, dass ich ja auch im Bildschnitt nicht so schlecht war. Sabine Tettenborn – heute Geschäftsführerin bei Maran Film, damals bei der Kirch-Firma Taurus Film – trug eines Tages den Sechsteiler „Nonni und Manni“ an mich heran. Eine große internationale Koproduktion, die nicht durch die Abnahme ging. Das ZDF wollte sich schon davon distanzieren, so wenig funktionierte diese Miniserie. So kam Frau Tettenborn zu mir und bat mich, das Ding zu retten. Ich hatte das gesamte Material zur Verfügung, das waren anderthalb Tonnen, die man einflog und in einen extra angemieteten Lagerraum brachte. Unvorstellbar, ich hatte regelrecht Angst. Mit Marion Mohnheim als einziger Assistentin habe ich das dann in einem halben Jahr durchgezogen. Am Ende habe ich die kompletten sechs Stunden umgeschnitten, nichts von der ursprünglichen Version des Films übernommen. Aber es hat funktioniert, sie wurde abgenommen und dann ja auch sehr erfolgreich. So sehr sie bei Taurus dankbar waren, bei der Synchronabteilung bin ich jedenfalls rausgeflogen, weil ich mich kaum noch kümmern konnte.

So waren Sie wieder freischaffend?

Nein, zum Glück hat mich die Taurus Film aufgefangen. Ach, im Grunde waren wir alle immer glücklich, dass wir Arbeit hatten und haben uns gewünscht, dass es ein Erfolg wird, denn hat ein Film funktioniert, durften wir den nächsten machen. So einfach war das. Und ich habe ein tolles Leben gehabt. Ich bin immer gerne in den Schneideraum gegangen, mir hat mein Beruf wirklich immer Spaß gemacht.